Die Schlucht von Tislit
Am nächsten Morgen ist von dem Sturm der vergangenen Nacht nichts mehr zu merken. Der Himmel ist strahlend blau (es war auch nachts klarer Himmel). Als wir aufstehen, haben die anderen schon gefrühstückt und beginnen gerade, die Maultiere zu beladen. Als erstes besichtigen wir heute den Agadir von Tizgui, den befestigten Korn- und Wertgegenstände-Speicher. Er ist ähnlich den Cliff Dwellings in Colorado (USA) in einen Felsüberhang hineingebaut. Jede Familie hat darin eine eigene Kammer mit einer verschlossenen Tür, und die ganze Konstruktion ist nochmal durch eine Tür gesichert, zu der nur der Dorfvorsteher den Schlüssel hat. Es ist immer noch ziemlich kalt heute Morgen, besonders im Schatten der hohen Felswände. Interessant ist, daß hier noch/schon Bäume wachsen, die Baumgrenze ist also offenbar mindestens bei 2000m.
Am Rande des Tales geht es weiter flußabwärts. Es wird zunehmend wärmer und die Umgebung lieblicher. Wir kommen durch verschiedene Dörfer, jedes mit einer Schule und fast jedes auch mit einem Minarett (Tizgui hatte keines). In einem der Dörfer schafft Esther es, einer Frau in Berbersprache Datteln anzubieten — ein paar weniger, die wir selber essen müssen, juhuu! Die sind ja nicht schlecht, aber wir haben einfach viel zuviel Essen dabei.
Um die Mittagszeit weitet sich das Flußtal und wir überqueren einige Felder, bevor wir an inem (ziemlich kalten) Schattenplatz Mittagspause machen (Rastplatz 3). Die Maultiere fressen sich am grünen Gras satt und wälzen sich (zum Ärger der Treiber) im Sand, während wir mal wieder Gemüse schnippeln, Dosenfisch aufmachen und auf den Reis warten. Nach dem Essen legt sich Mohamed (der Führer) in die Sonne und schläft, und wir setzen uns ebenfalls in die Sonne, auf ein paar Steine am Wegrand, um unseren Nachtisch (Äpfel und Orangen) zu verzehren. Die Maultiertreiber kochen sich noch Tee mit extra viel Zucker und dösen dann auch eine Weile.
Der Fluß erreicht jetzt eine enge, felsige Schlucht; der Weg wird spannend, es ist fast wie Canyoning! Wegen des niedrigen Wasserstandes können wir am Grund der Schlucht laufen und müssen nur gelegentlich etwas klettern oder ein paar Steine zum überqueren des Wassers nutzen. Schade, daß wir hier nicht mehr Zeit zum herumklettern und spielen haben! Viel zu schnell ist diese Etappe vorbei und das Flußtal wird wieder breiter, mit sandigem Untergrund. Links und rehcts befinden sich ulkige Felsformationen aus einem roten Konglomerat, die von Wind und Wasser geformt wurden. Wir erkennen überall Köpfe und Finger und andere Figuren. Die beeindruckendste Landschaft bisher. Der Schattenwurf der tief stehenden Nachmittagssonne macht alles noch interessanter. An einer breiteren Stelle der Schlucht machen wir nochmal kurz Pause und futtern Datteln und Kekse — immer noch ist (außer der Schokolade) nichts von den mitgebrachten und unterwegs angesammelten Vorräten alle geworden!
Felsformationen in der Schlucht von Tislit.
Weiter die Schlucht entlang wieder Spuren der Zivilisation: Bewässerungskanäle links und rechts des Flusses. Sie sind in einem komplexen System angelegt und bilden Brücken und Stege, auf denen wir laufen können. Bald gibt's auch wieder kleine Felder und Terrassen, und dann erreichen wir
Tislit, das Dorf, in dem wir übernachten werden. Diesmal bei einer Großfamilie, es wimmelt nur so von Kindern. Der Vater serviert erst mal Nüsse, Kekse und Tee, und sein dreijähriger Sohn (ratet mal: er heißt Mohamed) wartet listig, bis alle Männer aus dem Raum sind, bevor er sich über die übrig gebliebenen Kekse her macht. Durch uns läßt er sich dabei nicht stören.
Den Abend verbringen wir in der Küche des Hauses, wo die Hausherrin zeigt, wie man Couscous zubereitet. Natürlich dauert das stundenlang, und die Küche ist ungeheizt und zugig. Eine Gruppe jüngerer Kinder schaut herein und bekommt schon mal Brot und Ölsardinen zu essen. Insgesamt hat die Familie neun Kinder, das jüngste, der kleine Khaled, ist knapp ein Jahr alt, und die Älteste etwa 14 (oder ist sie doch eine Cousine, die als Haushaltshilfe hier arbeitet?). Als das Essen fertig ist, wird zunächst der Couscous zu einem Berg getürmt, mit dem Gemüse obendrauf und mit Soße, und dann mit Brot gegessen. Danach erst werden die Fleischstücke aus dem Topf gefischt und oben auf den Rest von dem Berg gelegt. Es wurde extra für uns ein Huhn geschlachtet. Als wir fertig gegessen haben, kommen die älteren Kinder herein und essen gemeinsam mit der Mutter die Reste (zuerst hatten nur wir, unsere drei Mohameds und Achmed, der Hausherr, gegessen).
Wir überlegen die ganze Zeit, ob der kleine Khaled wohl Windeln trägt; es sieht nicht so aus, und unser Eindruck bestätigt sich, als die 11-jährige Saina, die für ihn verantwortlich ist, ihn später mit nassem Strampelanzug herinbringt und auf den kalten Fußboden setzt. Er macht dann gleich noch eine neue Pfütze. Scheint aber niemanden zu stören, Papa nimmt ihn zum Kuscheln auf den Schoß. Gut, daß ich eine wasserdichte Hose trage...
Nach einem letzten Safran-Tee verabschieden wir uns für die Nacht und verkrümeln uns in das riesige Empfangszimmer, wo wir auf ein paar Matten schlafen werden. Kalt ist es, und der Wind zieht derartig durch die Fenster, daß Esther sich noch eine zusätzliche Wolldecke über den Schlafsack legt. Auch ich bin sehr froh über meinen dicken Schlafsack mit Komforttemperatur -1°C.
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